Laut Störfall-Verordnung (12. BImSchV) müssen Betreiber von Chemie-Anlagen alle fünf Jahre die Risiken ihrer verarbeitenden Prozesse identifizieren und gegebenenfalls Schutzmaßnahmen ergreifen. Eine spezielle Prüfungsmethode ist hierbei nicht gefragt, die Unternehmen führen jedoch in der Regel umfassende Analysen wie das Standardverfahren PAAG durch, die sehr zeitaufwändig sind. Dabei müssen sämtliche denkbare Abweichungen von der Sollfunktion erst anhand von zahlreichen Parametern erarbeitet werden. Durch die wiederholte Routine und das immer gleiche Abfragen der Parameter kann es außerdem zu Fehlern kommen. Um dieser Problematik entgegen zu wirken, hat Verfahrens- und Umwelttechnik Kirchner (VUT Kirchner) den Process Safety Quick Check (PSQC) entwickelt: Auf der Grundlage von Worst-Case-Szenarien kann innerhalb kürzester Zeit ein Überblick über die wesentlichen Risiken in einer Anlage gewonnen werden. Durch kritisches Hinterfragen des betriebsinternen Wissens sorgt der eingesetzte Moderator zudem bei bereits geprüften Einheiten für neue Perspektiven und korrigiert frühere Analysefehler.
Im Oktober 2016 forderte ein Unglück auf dem Gelände der BASF in Ludwigshafen fünf Menschenleben und hinterließ neben zahlreichen Schwerverletzten noch einen zweistelligen Millionenschaden. Ursächlich hierfür war laut eines Berichts der Tagesschau vom 5.2.2019, dass ein externer Mitarbeiter fälschlicherweise eine gasführende Leitung angeschnitten hatte. Ereignisse wie dieses belegen, wie schwierig es ist, sämtliche Gefahrenquellen in komplexen Verarbeitungsprozessen abzudecken. Selbst gängige Analysen wie das PAAG-Verfahren, die Gefahrenpotenziale vorab identifizieren und so Unfälle verhindern sollen, können auch nach wiederholter Anwendung noch Lücken aufweisen. „Niemand kann sagen, wo das letzte Risiko verborgen ist, eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht“, erklärt Dr.-Ing. Robert Kirchner, Gründer und Geschäftsführer der VUT Kirchner. Trotz dieses Restrisikos muss der Anlagenbetreiber jedoch die Betriebssicherheit gewährleisten. Die Störfallverordnung (12. BImSchV) schreibt daher wenigstens alle fünf Jahre systematische Checks vor, die von den Betrieben individuell umgesetzt werden können und dokumentiert werden müssen.
Bei PAAG, einem der Standardverfahren in der Risikoanalyse chemischer Verarbeitungsbetriebe, werden nach dem Leitwortverfahren Parameterabweichungen von der Sollfunktion einer bestimmten Prozesseinheit anhand von R&I‑Fließbildern hinterfragt. Dieser Vorgang nimmt jedoch viel Zeit in Anspruch, da erst eine ausführliche Funktionsbeschreibung der gesamten Anlage erfolgt und zusätzlich mögliche Ursachen, Auswirkungen sowie die erforderlichen Gegenmaßnahmen für einen nicht ordnungsgemäß ablaufenden Prozess ermittelt werden müssen. Zudem bleiben Risiken, die aus der Kombination von mehreren Abweichungen resultieren, unerkannt. Auch die häufig auftretende Fluktuation in der Belegschaft und der damit einhergehende Know-how-Verlust machen langfristige Analysen ineffizient und erfordern kurzfristig umsetzbare Aktionskonzepte. Nicht zuletzt kann bei wiederholter Anwendung eine gewisse routinemäßige Nachlässigkeit eintreten oder es können sicherheitsrelevante Aspekte bei Änderungen an den Prozesssystemen übersehen werden. Zum Beispiel wenn ein leicht veränderter Rohstoff, der unter der Annahme gleicher Qualität billiger eingekauft wurde, doch veränderte Eigenschaften aufweist, die erhöhte Ablagerungen verursachen und damit verkürzte Wartungsintervalle notwendig machen.
Neues Verfahren mit provozierenden Worst-Case-Szenarien
Als Alternative und vorbereitende Maßnahme zum PAAG-Verfahren bietet sich nun der PSQC an. Der Quick Check erfordert deutlich weniger Arbeitszeit eines Fachteams und bietet eine solide Grundlage für ausführlichere Untersuchungen. Entwickelt wurde das an PAAG und die Layer of Protection Analysis (LOPA) angelehnte Verfahren von VUT Kirchner in den Jahren 2017 und 2018 während eines Großprojekts mit einem internationalen Chemie-Konzern. Die Herausforderung bestand darin, ein Risikoranking zu entwickeln, um den bestmöglichen Ansatzpunkt für eine umfassende Analyse zu finden. „Der PSQC diente dabei als ein Vorauswahlverfahren“, berichtet Kirchner. Durch den Einsatz des PSQC war es möglich, von den 100 untersuchten Einheiten diejenigen zu identifizieren, bei denen eine tiefergehende Analyse überhaupt erforderlich ist. Auf diese Weise konnte Zeit und damit Geld gespart werden.
Der Ablauf des PSQC orientiert sich am PAAG-Verfahren: „Der Moderator erarbeitet gemeinsam mit dem Betriebsteam die nötigen Fakten und Beurteilungen. Er formuliert provozierende Worst-Case-Szenarien und fragt gezielt nach Lücken im Wissensstand der Mitarbeiter. Dabei bildet sich eine eigene zwischenmenschliche Dynamik mit neuem Erkenntnispotenzial“, so Kirchner. Das Verfahren verläuft wie folgt: Nach einer Einteilung der Anlage in Check Units, also Einheiten, wird im ersten von sechs Schritten ein erfahrenes Betriebsteam aufgestellt, das sich intern mit den relevanten Sicherheitsfragen vor Ort auseinandersetzt. Es besteht mindestens aus einem Anlagenfahrer, einem Ingenieur, einem weiteren Ingenieur für Prozessleittechnik sowie einem Vertreter des Instandhaltungspersonals. Das Betriebsteam setzt anschließend in einem zweiten Schritt den Moderator als Experten auf dem Gebiet der Risikoanalyse über die Funktionsweise der Einheit ins Bild und bespricht mit ihm mögliche Gefahren. Zur Vorbereitung einer zweiten Sitzung erstellt der Moderator nun vier Worst-Case-Szenarien je Einheit, so dass die schlimmsten denkbaren Ereignisse und deren Verhinderung diskutiert werden können. Diese Szenarien werden wiederum gemeinsam mit dem Betriebsteam betrachtet, ergänzt und nach der LOPA-Methode bewertet, sodass der Moderator in einem fünften Schritt die wesentlichen Risiken und Maßnahmen zur Minimierung in einem Berichtsentwurf zusammenfassen kann. Für die Schlussfassung des Protokolls findet zuletzt eine erneute Überprüfung durch das Betriebsteam statt. Somit liegt ein Dokument vor, das als Grundlage für eventuelle Projekte zur Risikominimierung und ausführlichere Sicherheitsanalysen dienen kann.
Vier statt 40 Stunden Zeitaufwand
Insgesamt fallen während des PSQC damit nur zwei Sitzungen à zwei Stunden mit dem Moderator an, was einen klaren Vorteil gegenüber der umfangreichen PAAG-Analyse darstellt: „Der übliche Arbeitsaufwand für eine PAAG-Untersuchung liegt bei circa 40 Stunden bezogen auf eine Einheit. Mit dem PSQC genügt eine reine Teamzeit mit Moderator von gerade einmal 4 Stunden“, rechnet Kirchner vor. Gleichzeitig verringert sich der Aufwand im Rahmen einer anschließenden Untersuchung erheblich, da die eingesetzten Mitarbeiter nun besser mit der Thematik vertraut sind. Hier ergibt sich wiederum eine Zeitersparnis von bis zu 50 Prozent. Zusätzlich erzeugt der Moderator in seinen Gesprächen mit dem Betriebsteam eine produktive Konfliktatmosphäre, indem er Wissenslücken auslotet, mit eigenem Know-how ergänzt und das Team konstruktiv unterstützt. Durch die Verteidigungsposition der Betriebsmitarbeiter ergeben sich dynamische Situationen, in denen neue Perspektiven entstehen können. „Ein Fragenkatalog ist leicht abzuarbeiten. Die Schwierigkeit besteht aber darin, das Team vor Ort so zu befragen, dass auch tatsächlich alle relevanten Risiken entdeckt werden“, erklärt Kirchner. Denn anders als beim PAAG-Verfahren beschränkt sich der PSQC auf wenige Parameter. Durch das Aufstellen von Worst-Case-Szenarien für jeweils eine bestimmte Einheit im Betrieb werden jedoch die wesentlichen Risiken erfasst und gleichzeitig das Fundament für weitergehende Untersuchungen gelegt.
Damit kann bei guter Vorbereitung von Team und Moderator durch den PSQC das Gesamtrisiko einer Einheit beziffert und mit den anderen Einheiten in einer Reihenfolge sortiert werden. Folglich werden weder Risiken überbewertet noch wesentliche Gefahren vernachlässigt, im Gegenteil: „Das Team findet eher Fehler in früheren Sicherheitsanalysen und konzentriert sich auf neue Erkenntnisse. Andere Analysen zu ergänzen, sicherer zu machen, ist Aufgabe des PSQC“, fährt Kirchner fort. So eignet sich das Verfahren nicht nur bei Erstuntersuchungen, sondern auch für die wiederholte Analyse, um unbekannte Risiken aufzudecken und den Aufwand für Sicherheitsanalysen und ‑investitionen klar zu priorisieren.