Von Zellen muss präzise kontrolliert werden, welche der vielen im Erbgut enthaltenen Gene sie nutzen. Dies geschieht in sogenannten Transkriptionsfabriken, molekularen Ansammlungen im Zellkern. Forschende am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und am Max-Planck-Zentrum für Physik und Medizin (MPZPM) haben nun festgestellt, dass die Bildung der Transkriptionsfabriken der Kondensation von Flüssigkeiten ähnelt. Ihre Erkenntnisse können künftig zum Verständnis von Krankheitsursachen beitragen sowie die Entwicklung DNA-basierter Datenspeicher voranbringen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichten in Molecular Systems Biology.
Das Erbgut des Menschen enthält mehr als 20 000 verschiedene Gene. Allerdings greift jede Zelle nur auf einen Bruchteil der in diesem Genom gespeicherten Informationen zurück. Zellen müssen also genau kontrollieren, welche Gene sie nutzen – sonst kann es beispielsweise zur Entstehung von Krebs oder auch zu Störungen im embryonalen Wachstum kommen. Eine zentrale Rolle bei der Auswahl der aktiven Gene kommt sogenannten Transkriptionsfabriken zu.
„Bei diesen Fabriken handelt es sich um molekulare Ansammlungen im Zellkern, welche die korrekte Auswahl der aktiven Gene und das Auslesen ihrer Sequenz an einem zentralen Ort vereinen.“
— Lennart Hilbert, Juniorprofessor
In wenigen Sekunden aufgebaut und gestartet
Wie Transkriptionsfabriken innerhalb von wenigen Sekunden aufgebaut und gezielt in Betrieb genommen werden, beschäftigt Zell- und Molekularbiologinnen und ‑biologen seit Jahrzehnten. Ergebnisse der vergangenen Jahre deuten auf die Relevanz von Vorgängen hin, die zuvor nur von industriellen und technischen Polymer- und Flüssigmaterialien bekannt waren. Aktuell untersucht die Forschung besonders die Phasentrennung als einen zentralen Mechanismus. Im Alltag zeigt sich die Phasentrennung beispielsweise bei der Trennung von Öl und Wasser. Bisher war jedoch nicht geklärt, wie genau die Phasentrennung zum Aufbau von Transkriptionsfabriken in lebenden Zellen beiträgt.
Forschende am Institut für Biologische und Chemische Systeme (IBCS), am Zoologischen Institut (ZOO), am Institut für Angewandte Physik (APH) und am Institut für Nanotechnologie (INT) des KIT haben zusammen mit Wissenschaftlern an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), am Max-Planck-Zentrum für Physik und Medizin (MPZPM) in Erlangen und an der University of Illinois at Urbana-Champaign/USA neue Erkenntnisse zur Bildung von Transkriptionsfabriken gewonnen: Sie geschieht ähnlich wie die Kondensation von Flüssigkeiten. Dies zeigen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer Publikation in der Zeitschrift Molecular Systems Biology. Erstautorin und Erstautor sind Agnieszka Pancholi vom IBCS-BIP und ZOO des KIT sowie Tim Klingberg von der FAU und vom MPZPM.
Modernste Lichtmikroskopie mit Computersimulationen kombiniert
In ihrer Publikation zeigen die Forschenden, dass die Kondensation bei der Bildung von Transkriptionsfabriken dem Beschlagen einer Brille oder einer Fensterscheibe ähnelt: Flüssigkeit schlägt sich nur in Anwesenheit einer empfänglichen Oberfläche nieder, dann allerdings sehr schnell. In der lebenden Zelle dienen speziell markierte Bereiche des Genoms als Kondensationsoberfläche. Die mit Flüssigkeit umhüllten Bereiche erlauben das Anhaften relevanter Gensequenzen sowie zusätzlicher Moleküle, welche die anhaftenden Gene schließlich aktivieren.
Diese Erkenntnisse wurden im Rahmen einer interdisziplinären Zusammenarbeit erreicht. So beobachteten die Forschenden Zebrafischembryonen mit modernsten Lichtmikroskopen, die im Team von Professor Gerd Ulrich Nienhaus am APH entwickelt wurden. Diese Beobachtungen wurden verbunden mit Computersimulationen am Lehrstuhl für Mathematik in den Lebenswissenschaften an der FAU und am MPZPM, den Professor Vasily Zaburdaev leitet. Die Kombination von Beobachtungen und Simulationen macht den Kondensationsvorgang nachvollziehbar und erklärt, wie lebende Zellen schnell und zuverlässig Transkriptionsfabriken aufbauen können.
Das neue Verständnis kondensierter Flüssigkeiten in lebenden Zellen hat in den vergangenen Jahren grundsätzlich neue Ansätze zur Therapie von Krebs und Erkrankungen des Nervensystems geliefert. Diese Ansätze werden bereits von erst kürzlich gegründeten Unternehmen verfolgt, um neue Medikamente zu entwickeln. Andere Forschungsarbeiten befassen sich mit dem Einsatz von DNA-Sequenzen als digitale Datenspeicher.
Die prinzipielle Machbarkeit DNA-basierter Datenspeicher wurde inzwischen von mehreren Arbeitsgruppen demonstriert. Informationen zuverlässig in solchen DNA-Speichermedien zu speichern und auszulesen, stellt jedoch noch eine Herausforderung dar. „Unsere Forschung zeigt, wie die biologische Zelle solche Vorgänge schnell und gleichzeitig zuverlässig organisiert. Die von uns erstellten Computersimulationen und Funktionskonzepte lassen sich direkt auf künstliche DNA-Systeme übertragen und können deren Design unterstützen“, sagt Hilbert.