Wann sind Maschinen und Anlagen „intelligent“? Wann kommt die Digitalisierung im Mittelstand an – vor allem mit welchem konkreten Nutzen? Wann sind die Lösungen der Industrie 4.0 einsatzbereit, bezahlbar und auf den individuellen Bedarf anpassbar? Die im Bereich intelligenter Automation führenden Forschungseinrichtungen in Ostwestfalen-Lippe, das Fraunhofer IOSB-INA und das Institut für industrielle Informationstechnik (inIT) der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe, bringen die Antworten aus Lemgo mit auf die diesjährige Hannover Messe. Dabei reicht die Bandbreite von Assistenzsystemen mit Augmented Reality über Cybersicherheit bis hin zu Lösungen für das Retrofitting – und den Forschern gelingt dabei das, was sich im Technologietransfer oftmals schwierig gestaltet: Mittelständische Unternehmen werden bei ihrem Bedarf und ihrer individuellen Ausgangssituation abgeholt.
Die Digitalisierung hält Einzug in alle Bereiche der industriellen Produktionund mit ihr die aktuellen Themen wie Künstliche Intelligenz, IoT, 5G oder Digitaler Zwilling. Aber was kommt von den Innovationen der sogenannten 4. Industriellen Revolution im Mittelstand an? Auf der weltweit größten Industrieschau stellen die Forschungspartner Fraunhofer IOSB-INA und das inIT der Technischen Hochschule OWL aus Lemgo digitale Innovationen in der IT-basierten Automation vor und zeigen in verschiedenen Live-Präsentationen neueste Ergebnisse ihrer Forschungsarbeiten, wo konkrete Anknüpfungspunkte und realistische Amortisationszeiten auf den Mittelstand warten.
„Wir nutzen intelligente technische Systeme, um Menschen in einer komplexer werdenden Produktion dabei zu unterstützen, schneller und fundierter Entscheidungen treffen zu können“, so der international anerkannte Industrie‑4.0‑Experte Professor Jürgen Jasperneite, Leiter des Fraunhofer IOSB-INA und Vorstand am Institut für industrielle Informationstechnik (inIT). Er zeigt damit auf, dass bereits anwendbare Lösungen existieren und die „intelligente Fabrik längst keine Utopie mehr ist.“ Künstliche Intelligenz oder computergestützte Assistenzsysteme sollen dabei den Betrieb der immer komplexer werdenden Industrieanlagen erleichtern: Innovative, selbstlernende Modelle können beispielsweise den Menschenvon monotonen, repetitiven oder gefährlichen Aufgaben befreienoder den Prozess einer Anlagenüberwachung und ‑wartung wesentlich optimieren. Mit neuen Sensorsystemen können aber auch Bestandsanlagen analysiert und optimiert, bzw. in automatisierte Prozesse eingebunden werden.
Retrofitting: Zukunftstechnologien für die Anlagen von heute
An einer fast 30 Jahre alten Standbohrmaschine, wie sie in hunderten Handwerksbetrieben und Produktionen eingesetzt wird,zeigen die Lemgoer Forscher des inIT beispielhaft die Anwendung Künstlicher Intelligenz für das Condition Monitoring. Datenerfassungssysteme und Algorithmen können hier das Systemverhalten lernen und Anomalien, beispielsweise fehlerhaftes Nutzer- oder Maschinenverhalten im System nicht nur erkennen, sondern anhand der Sensorsignale auch präzise lokalisieren.Basierend auf aus Daten gelernten Modellen, unterstützt das Monitoringverfahren an dem Demonstrator die vorausschauende Wartung und erleichtert den Produktionsprozess. Ein Dashboard zeigt den aktuellen Zustand der Anlage an und erkennt Unregelmäßigkeiten, indem Sensordaten analysiert und Ergebnisse anschließend visualisiert werden. Der auf der Hannover Messe präsentierte Anwendungsfall soll Unternehmen konkret aufzeigen, mit welchen einfachen Mitteln auch Bestandsmaschinen Anschluss an die digitale Welt bekommen können: An der Standbohrmaschine kann mit den Fraunhofer-Lösungen beispielsweise in Echtzeit geprüft werden, ob der Bohrer im vorgesehenen Drehzahlbereich arbeitet, ober er zu heiß wird bzw. verschlissen oder die Vorschubgeschwindigkeit passend ist. Diese und weitere Kennzahlen werden digital nutzbar und erhöhen die Qualität, Effizienz und (Ausfall-)Sicherheit. Die branchenunabhängige Lösung hierfür auf der Sensorikseite heißt „INAsense“ und passt in einen transportablen Koffer.
Die Vorteile von Assistenzsystemen liegen für die Forscher in der Flexibilität und den vielfältigen intuitiven Einsatzmöglichkeiten. „Informationsfusion ist Voraussetzung für Industrie 4.0, also die Bündelung von großen Datenmengen. Diese werden beispielsweise an Assistenzsysteme weitergegeben und können dann vom Anwender genutzt werden“, erläutert Professor Volker Lohweg, Direktor des inIT und Vorreiter auf dem Gebiet der Sensor- und Informationsfusion. Die am inIT entwickelten Konzepte zur Informationsfusion ermöglichen eine passgenaue Unterstützung des Menschen, beispielsweise durch eine automatisierte Fehlerkontrolle oder nutzerzentrierte Hilfestellungen.
Am Assistenzsystem XTEND von Fraunhofer demonstrieren sie den Messebesuchern eine situationsbezogene Augmented Reality (AR)-Unterstützung durch Tiefensensoren in der Kamera. Der Nutzer kann hier die jeweils für ihn passende Ein- bzw. Ausgabemodalität wie ein Tablet, eine Projektion oder eine Datenbrille am Arbeitsplatz selbst wählen.Das XTEND-System lässt sich aber nicht nur von Werker einsetzen, ebenso können Wartungs- oder Umrüstungsanweisungen mit AR auf eine beliebige andere Anlage projiziert oder auf einem anderen Devices wie Smartphone oder ‑watch dargestellt werden.
Digitalisierung als Chance
Digitalisierung wird als langfristiger Trend irreversibel sein. Arbeits- und Berufsfelder werden sich verändern, „doch der Mensch bleibt weiterhin unersetzbar in der Produktionswelt“, so Jasperneite. Geht es nach den Forschern vom Fraunhofer IOSB-INA und inIT, bietet die digitale Fabrik der Zukunft reichlich Potentiale, den Menschen im Produktionsumfeld zu unterstützen und zu entlasten. Die menschenleere Fabrik wird es für Jasperneite nicht geben: „Mensch und Maschine werden sich zukünftig noch besser ergänzen können.“ So können intelligente Automatisierungstechnologien und digitale Assistenzsysteme zunehmend eigenständig Entscheidungen treffen, die gleichzeitig den Menschen in seiner Arbeit unterstützen. Lohweg ergänzt, die Digitalisierung der Industrie biete ein „enormes Potential, innovativ und weltweit vernetzt zu produzieren“.
Ziel der Lemgoer Forschungsarbeiten ist es, mittelständische Unternehmen für die Chancen der Digitalisierung zu sensibilisieren und sie beim Wissens- und Technologietransfer im eigenen Unternehmen zu unterstützen, zum Beispiel mit Retrofitting der Bestandsanlagen.Digitalisierung im Mittelstand erfor¬dert nicht nur neue Technologieentwicklungen, sondern beispielsweise auch IT-Sicherheitskompetenz. Ein speziell entwickel¬ter Schulungskoffer des Lemgoer Fraunhofer-Lernlabors „Cybersicherheit in der Produktion“ stellt Messebesuchern praktische Anwendungsbereiche vor.
Anhand eines industriellen Prozesses werden sicher¬heitskritische Aspekte aufgezeigt, ver¬schiedene Cyberangriffe demonstriert und eine sichere Kommunikation basierend auf OPC UA vorgestellt. Dies ermöglicht die sichere Umsetzung von Indus¬trie‑4.0‑Anwendungsfällen wie Predictive Maintenance, Optimierung oder Condition Monitoring. In Lemgo wird seit Jahren an Technologien für die Intelligente Automation geforscht und Industrie 4.0 in die Praxis umgesetzt.
Fraunhofer IOSB-INA auf der Hannover Messe 2019: Halle 16, Stand A04