Während biopharmazeutische Prozesse bisher nur durch aufwändige, zeitintensive Analysenmethoden und im Rückblick beurteilt werden konnten, ermöglicht ein vom Acib zusammen mit Boehringer Ingelheim RCV und Novartis Pharma, Kundl entwickeltes Verfahren die Kontrolle dieser Prozesse erstmals in Echtzeit. Integrierte Sensoren und mathematische Modelle liefern in Sekunden Informationen über die Produktqualität und ‑quantität sowie vorhandene Verunreinigungen. Fehlproduktionen und Gesamtprozessdauer werden gesenkt und Prozesse dadurch sicherer. Das neue Verfahren hilft der Industrie, Produktengpässe zu vermeiden und Herstellungskosten von hochpreisigen Medikamenten zu mindern.
Der Marktanteil biotechnologisch produzierter Medikamente, wie Impfstoffe, Krebstherapeutika oder Wirkstoffe zur Behandlung gegen Diabetes oder rheumatoider Arthritis, hat sich in den letzten zehn Jahren annähernd verdoppelt. Biopharmazeutika, die meist in Bakterien oder tierischen Zellen hergestellt werden, besitzen im Vergleich zur chemischen Synthese den Vorteil, weitaus flexibler zu sein und unter schonenderen, natürlichen Bedingungen produziert werden zu können. So wird die Herstellung von Produkten zur Therapie von Krankheiten möglich, die vor wenigen Jahren noch als unheilbar galten.
Herausfordernde Produktion durch Verunreinigungen
Jedoch ist die Herstellung von Biopharmazeutika bis heute sehr herausfordernd. Das betrifft insbesondere die Produktion in biologischen Systemen als auch die Entfernung von begleitenden Verunreinigungen. Mehrstufige Aufreinigungsprozesse und ein hohes Maß an Prozessverständnis sind notwendig, um die behördlich geforderte Reinheit dieser Produkte zu gewährleisten. Derzeit wird die Produktqualität durch eine ständige Probenentnahme aus dem Prozess und anschließende Analyse überprüft und dokumentiert. Derartige Qualitätskontrollen sind sehr zeitaufwendig, daher erhält man diese Information oft erst Stunden oder Tage nach Abschluss einzelner Prozessschritte. Das bedingt einerseits große Verzögerungen der Prozesse durch die Wartezeiten auf die Analyseergebnisse. Andererseits kann lediglich die Qualität eines Produktes festgestellt werden – ein aktives Einwirken darauf ist nicht möglich.
Echtzeitkontrolle durch wissensbasierte Prozessführung
Das Austrian Centre of Industrial Biotechnology (Acib) hat gemeinsam mit Boehringer Ingelheim RCV, Wien und der Novartis Pharma, Kundl ein System entwickelt, das die Kontrolle der komplexen Aufreinigungsprozesse von Biopharmazeutika in Echtzeit ermöglicht. “Während bisherige Methoden oft nur Information über ein Qualitätsmerkmal des Produktes im laufenden Prozess liefern, können wir mit dem entwickelten Verfahren in Sekundenschnelle nicht nur Aussagen über die Qualität und Quantität des Produktes, sondern auch über vorhandene Verunreinigungen erhalten. Dies wird durch Kombination verschiedener Sensoren und die Entwicklung mathematischer Modelle ermöglicht, die einen Zusammenhang zwischen den gemessenen Signalen und wichtigen Qualitätskriterien herstellen und Informationen in Echtzeit zur Verfügung stellen.
Das Stichwort ist wissensbasierte Prozessführung”, erklärt Astrid Dürauer, Projektleiterin und Key Researcherin am Acib sowie Senior Scientist am Institut für Biotechnologie an der Boku Wien. Eine im Projekt entwickelte Benutzeroberfläche erlaubt die Überwachung des Systems, die visuelle Darstellung der erhobenen Daten sowie eine Rückmeldung der Informationen zur Systemkontrolle. “Das System reduziert das Risiko von Fehlproduktionen, die Gesamtprozessdauer und das Ausmaß der notwendigen Analysen deutlich. Das macht Prozesse sicherer, schneller und effizienter.“ Damit stehen Kapazitäten für andere Produkte oder mehr Chargen eines Produktes zur Verfügung, wodurch Produktengpässe behoben werden. Indem Herstellungskosten reduziert und Ressourcen geschont werden, kann zukünftig mit einer deutlichen Kostensenkung bisher hochpreisiger Medikamente gerechnet werden.
Eine Wende in der biotechnologischen Produktion
Das Acib hat den Prototyp am Wiener Standort von Boehringer Ingelheim zusammen mit beiden Industriepartnern entwickelt und über drei Jahre getestet. Im vergangenen Jahr wurde das System bei beiden Firmenpartnern erfolgreich in Betrieb genommen. Das Verfahren wurde in Europa und den USA bereits patentiert. “Technologisch gesehen ist der Einsatz von Inprozess-Qualitätskontrolle in Echtzeit die unabdingbare Voraussetzung für eine Echtzeitfreigabe von Produktionschargen und damit für eine effiziente Produktion hochqualitativer Biopharmazeutika. Das entwickelte Verfahren stellt die Basis für eine verkürzte Produktionsdauer dar und kann uns einen deutlichen Innovationsvorsprung bei der Prozessführung in der Produktion von Biopharmazeutika bringen”, freut sich Christian Eckermann, Leiter der Biopharmazie des Boehringer Ingelheim RCV. Auch Michael Kocher, Country President von Novartis Austria kann dies bestätigen. Kocher sieht mit der neuen Technologie auch eine Antwort für die behördlich seit Jahren geforderten Echtzeitkontrollen in der pharmazeutischen Industrie: “Kontinuierliche Produktion und Qualitätskontrolle für Herstellungsprozesse in Echtzeit sind mittlerweile Stand der Technik in der Automobil- oder Lebensmittelbranche und haben dort nachweislich zur Verbesserung der Produktqualität sowie zu effizienteren Produktionen geführt. Wenngleich die zuständigen Behörden für die Zulassung von Medikamenten die Einführung solcher Echtzeitkontrollen auch in der pharmazeutischen Industrie seit Jahren einfordern, fanden diese Strategien bisher nur wenig Umsetzung, speziell im Biopharmabereich. Wir liefern als Erste eine Antwort darauf und leiten mit dem neuen System eine Wende in der biotechnologischen Produktion ein.”