Der digitale Zwilling eines physischen Produkts oder digitalen Prozesses kann heute dank des Industrial Internet of Things (IIoT) in Echtzeit Leistungsparameter analysieren, überwachen und bereitstellen. Ein digitaler Zwilling stellt dabei eine auf Simulationstechnologie basierende, virtuelle Nachbildung einer sich in Betrieb befindlichen Anlage oder eines Systems dar, die mit dem realen Produkt verbunden ist. Diese integrierte Multi-Domain-Systemsimulation spiegelt alle Gegebenheiten, Betriebsbedingungen und Ereignisse der realen Anlage wider. Dadurch ermöglicht sie optimiertes System-Design, vorausschauende Wartung, ein verbessertes Industrieanlagen-Management und eine allgemeine Leistungsverbesserung der Anlagen und Systeme.
IIot ist der Enabler für physik-basierte digitale Zwillinge
Industriebranchen mit sehr hoher Kapitalbindung durch Anlagen wie die Energie‑, Prozess- und Stromindustrie nutzten in der Vergangenheit regelmäßige Inspektionen und historische sowie statistische Analysemethoden, um Wartungszeiträume abzuschätzen sowie Ausfälle und Defekte zu minimieren.
Dank des IIoT, kombiniert mit der Entwicklung von smarten, vernetzten Anlagen sowie der breiten Verfügbarkeit von Sensoren, ist es nun möglich, genaue Wartungs- und Betriebsbereiche für jede spezifische Ausrüstung einer bestimmten Anlage unter realen Betriebsbedingungen zu entwickeln. Diese können unter anderem für die Anlagenleistung und ‑inspektion sowie die operative Überwachung verwendet werden. Digitale Zwillinge werden dabei auch für die Analyse von Fehlern aufgrund von Ermüdung, Vibration, Erosion sowie anderen Betriebskonditionen bei Anlagen und Systemen genutzt.
Gerade bei alternden Anlagen stellt sich immer die Frage, wie lange sie noch zuverlässig ihre Aufgabe erfüllen können und ob es sich lohnt, die Betriebszeit durch Investitionen weiter zu verlängern oder sie außer Betrieb zu nehmen. Um diese Frage im Hinblick auf Sicherheitsrisiken sowie die ökologische und ökonomische Profitabilität beantworten zu können, benötigt man zum einen das Wissen über die Betriebsbedingungen und zum anderen eine verlässliche Aussage über die Anlagenleistung. Beides kann über einen digitalen Zwilling in Echtzeit erfasst werden.
Tatsächlich ist Simulation schon seit längerem ein elementarer Bestandteil in der Produktentwicklung. Sie erhöht die System- oder Anlagenleistung um ein Vielfaches, reduziert Entwicklungskosten und verkürzt die Zeit bis zur Marktreife. Technologien, die das Internet of Things möglich machen, erlauben es Ingenieuren, noch einen Schritt weiter zu gehen. Simulationen können jetzt nicht mehr nur bei der Produktentwicklung genutzt werden, sondern auch in Systeme integriert werden, die in Betrieb sind. Dies bietet Unternehmen einen komplett neuen Weg der Wertschöpfung, da sie ihren Betrieb und ihre Wartung viel effizienter gestalten sowie ihren Produktentwicklungsprozess weiter beschleunigen können.
Woher kommt der Begriff digitaler Zwilling?
Der Begriff digitaler Zwilling wurde in den frühen Anfängen des Online-Shoppings geprägt, um ein digitales Abbild eines Kunden und seiner Kaufgewohnheiten zu schaffen und diese besser zu verstehen. Heute wird er oft in Zusammenhang mit Industrie 4.0, dem Internet der Dinge und der digitalen Fertigung verwendet. Der fast inflationäre Gebrauch des Begriffs hat aber dazu geführt, dass er auch immer wieder im falschen Kontext genutzt wird. Ein echter digitaler Zwilling muss in der Lage sein, bei der Entwicklung, Wartung und dem Betrieb einer verbundenen, virtuellen Nachbildung einer sich in Betrieb befindlichen Anlage oder eines Systems zu helfen, so dass unproduktive Zeiten minimiert, Ausfallzeiten eliminiert und Wartungskosten durch das System-Design reduziert werden. Darüber hinaus erlaubt er die vorausschauende Wartung und optimiert das Anlagen- und System-Management. Der digitale Zwilling gehört aktuell zu den heißesten und aufregendsten Grenztechnologien in der Simulation.
Aber wie genau nutzen Ingenieure eigentlich einen digitalen Zwilling?
Ein digitaler Zwilling ist eine sehr genaue digitale Kopie eines physischen Objekts, einer Komponente oder eines „Dings“. Mit technischer Simulations-Software, und Ansys Twin Builder im Speziellen, werden kontinuierlich Daten (Temperatur, Druck, Durchflussrate, et cetera) des Objekts mithilfe von angebrachten oder integrierten Sensoren in Echtzeit gesammelt. Dadurch erlebt der digitale Zwilling dieselbe Abnutzung wie das physische Gerät, allerdings virtuell auf einem Computer.
Ingenieure können dieses genaue Modell nutzen, um Probleme vorherzusehen und Ausfallzeiten für Reparaturen zu planen, anstatt sich auf Wartungszeitpläne auf Basis von Zeitintervallen zu verlassen. Ungeplante Ausfallzeiten sind wesentlich teurer als solche, die man vorausschauend planen kann. Darüber hinaus können Ingenieure durch Simulation unterschiedliche Betriebsbedingungen testen, bevor sie die Anlage diesen aussetzen. Der digitale Zwilling bietet zudem eine Vielzahl unterschiedlicher Betriebsdaten, die dazu genutzt werden können, die nächste Version des Objekts wesentlich leistungsfähiger zu machen.
Digitale Zwillinge sind aber weit mehr als nur eine Technologie. Sie stellen eine der Hauptsäulen der digitalen Transformation in der Energie- und Prozessindustrie dar. Der echte Wert eines digitalen Zwillings besteht in seiner Fähigkeit, den technischen und unternehmerischen Betrieb zu verändern und dabei zu helfen, neue Prozesse für die Entwicklung, das Design, den Betrieb und die Wartung vieler kritischer Anlagen zu entwickeln.
Komplexe Projekte benötigen oft auch komplexe Lösungen, um sich weiterentwickeln zu können. Zum Beispiel suchen Unternehmen in der Öl- und Gasindustrie immer nach Wegen, Materialien und Ressourcen so kosten- und zeiteffizient wie möglich zu gewinnen. Mit einem digitalen Zwilling kann diese Industrie ihre Pipelines überwachen und Erosion, Korrosion und Materialermüdung frühzeitig erkennen. Zudem kann simuliert werden, wie diese Probleme das physische Objekt beeinflussen. Darüber hinaus können Ingenieure diese Daten in die Weiterentwicklung einfließen lassen, um das Design des Objekts zu optimieren und Betriebsstörungen zu minimieren.
Wie baut man einen digitalen Zwilling?
Um einen digitalen Zwilling zu entwickeln, starten Ingenieure mit dem Bau eines Systemmodells, dass dann verifiziert und optimiert wird. Viele unserer Kunden nutzen Ansys Twin Builder bereits, um ihre Systemmodelle einfach und schnell zu bauen. Das Tool kombiniert die Leistung eines Modellierers für Multidomänensystemen mit umfassenden, anwendungsspezifischen 0D-Bibliotheken, 3D-Physik-Lösern und Reduced-Order-Modell-Fähigkeiten (ROM) sowie einer eigebetteten Control-Code-Integration. Es erlaubt auch die Wiederverwendung bereits existierender Komponenten, um noch schneller ein hoch präzises Systemmodell eines Objekts zu erstellen. Detaillierte 3D-Physik kann darüber hinaus jederzeit genutzt werden.
Diese Funktionalitäten machen den Entwicklungsprozess für einen digitalen Zwilling deutlich einfacher. Grundsätzlich wird der Aufwand für das Erstellen eines digitalen Zwillings durch die hohe Zeit- und Kostenersparnis aber mehr als wieder gut gemacht. Zu den Vorteilen zählen die Halbierung der Zeit in der Bauphase und bis zu 25 Prozent höhere Leistung des Objekts in der Verifizierungsphase. Im Einsatz kann ein digitaler Zwilling zudem die Wartungskosten innerhalb eines Produktlebenszyklus um bis zu 20 Prozent senken. Aus unternehmerischer Sicht fördert die für das Erstellen benötigte Kollaboration zwischen den Ingenieuren und den für den Betrieb verantwortlichen Mitarbeitern wichtige Arbeitsbeziehungen Denn es werden automatisch die Informationsflüsse der Objektleistung über Zeit zu den Ingenieuren optimiert, die gerade dabei sind, die nächste Generation des Systems zu entwickeln.
Digitaler Zwilling einer Pumpe
Erst kürzlich konnten wir demonstrieren, wie ein lernender Algorithmus die Anzahl der Betriebstage bis zum Ausfall eines hydraulischen Pumpensystems und der Regelventile auf der Saug- und Druckseite einer Kreiselpumpe vorhersagte. Damit wollten wir zeigen, wie die Sensordaten des Motors und der Pumpe dazu genutzt werden können, das System effizient zu betreiben und Ausfälle zum Beispiel durch Hohlraumbildung zu vermeiden.
Um die Leistungsfähigkeit eines physikbasierten digitalen Zwillings zu demonstrieren, haben wir dabei den Ansaugdruck um 50 Prozent reduziert. Dadurch haben die Sensoren auf dem realen Produkt sofort gemeldet, dass etwas nicht stimmt. Zum Beispiel hatten sich der Innendruck, Außendruck und die Durchflussrate dramatisch reduziert, während die Betriebslautstärke der Pumpe sich erhöhte. Was die Sensoren aber nicht zeigen konnten, waren diagnostische Informationen. Es gab keine Möglichkeit in die Pumpe hineinzusehen, um festzustellen, warum sie so laut vibrierte. Die Sensordaten gaben auch keinen Aufschluss darüber, was passiert wäre, wenn unterschiedliche Maßnahmen ergriffen worden wären, um das Problem zu lösen. Daher wurde der von Ingenieuren bereitgestellte physikbasierte digitale Zwilling genutzt, um diese Herausforderungen zu lösen. Dafür wurden die Sensordaten der Demonstrationseinheit über das Internet übermittelt und als Rahmenbedingungen für das System und die einzelnen Komponenten des simulierten Models genutzt.
Das simulierte Model begann daraufhin sofort, dieselben Symptome, reduzierter Druck und Fluss, wie das reale Model zu zeigen. Während Ingenieure das physische Produkt nur von außen betrachten konnten, erlaubte ihnen der digitale Zwilling den Blick in das Innere des virtuellen Systems, um das Problem zu verstehen. Der Zwilling zeigte, dass die Flüssigkeit im Inneren der Pumpe Hohlräume bildete. Dadurch war klar, dass sowohl die Betriebslautstärke als auch die Vibration auf diese Kavitation zurückzuführen waren. Im nächsten Schritt nutzten die Ingenieure den digitalen Zwilling, um herauszufinden was passiert, wenn sie die Betriebsbedingungen veränderten. Nachdem sie den Effekt unterschiedlicher Ventileinstellungen getestet hatten, kamen sie zu dem Schluss, dass nur das Öffnen des Ansaugventils auf 100 Prozent den normalen Druck und die richtige Durchflussrate wiederherstellen würde.
Digitaler Zwilling bei einem Wärmetauscher für Öl und Gas
Wärmetauscher werden in Öl‑, Gas‑, und Prozessindustriefabriken häufig eingesetzt. Deshalb haben wir einen digitalen Zwilling eines Wärmetauschers genutzt, um unterschiedliche Ausfallvarianten zu simulieren. Dies gelang, indem wir die Multiphysiksimulation des Wärmetauschers unterschiedlichen Fließ- und Betriebsbedingungen aussetzten. Das Ziel war es, diese anerkannte und etablierte Simulationstechnologie zu nutzen, um mit Hilfe eines Reduced-Order-Modells (ROM) die Fehlerquellen, ‑ursachen und ‑orte festzustellen sowie Szenarien zur Fehlerreduzierung zu testen.
Durch numerische Strömungsmechanik (CFD) wurden Ablagerungen und Korrosion auf der Oberfläche der Rohre, Drosselscheiben und dem Gehäuse des Wärmetauschers modelliert. Die Effekte auf den Betrieb, wie zum Beispiel den Strömungsdruck, wurden auch von den Hitzetransfercharakteristika und Fehlermodellen angezeigt. Die Ergebnisse der CFD (thermale und hydrodynamische Belastungen) wurden dann an den FEA-Löser transferiert, um Ermüdung und Knicke der Metalloberfläche zu analysieren. Diese Fehlermodelle wurden dann mit der digitalen Fabrik auf Systemebene mithilfe der speziell für diese Anwendung zur Leistungsoptimierung entwickelten ROM verbunden.
Fazit
Digitale Zwillinge erlauben den erweiterten Blick auf den Produktlebenszyklus, vom Design, über die Fertigung, bis hin zum Betrieb. Die Integration in alle Phasen wirkt sich sowohl auf Investitionsausgaben als auch auf Betriebskosten positiv aus. Digitale Zwillinge ermöglichen es, Belange für den Betrieb in den Produktentwicklungszyklus einzubeziehen und eine Feedback-Schleife zu integrieren, um zukünftige Produkt-Designs anzupassen. Gleichzeitig wird durch ihren Einsatz die Leistung von sich aktuell in Betrieb befindlichen Produkten erhöht.
Ingenieure können, die von einem digitalen Zwilling gesammelten Daten nutzen, um Wartungszyklen und Reparaturen während der Betriebszeit zu optimieren und so Zeit sparen und Kosten reduzieren. Die Daten geben auch wertvolle Einblicke für die Entwicklung zukünftiger Produkte, so dass in der sich schnell entwickelnden Welt der Technologien ein Wettbewerbsvorteil entsteht.
Die Industrie setzt heute schon häufig sensorbasierte digitale Zwillinge ein. Diese bieten Nutzern einen Einblick in die aktuellen Betriebsbedingungen, die Betriebsdauer und interne wie externe Belastungen. Ein physikbasierter digitaler Zwilling bietet zusätzliche Einblicke, die Unternehmen benötigen, um die Leistung einer Anlage zu bewerten. Sie nutzen die Daten und verarbeiten diese in einer Systemsimulation sowie einer eingebetteten Kontroll-Software, die die Reaktion der Anlage in der realen Welt virtuell imitiert.
Autor: Ahmad H. Haidari, Ph.D. ist Global Industry Director für die Prozess‑, Energie- und Stromindustrie bei Ansys.